Kinder brauchen Bewegung

zur gesunden und selbstbewussten Entwicklung



Dieter Breithecker      Dieter Breithecker

Kinder sind immer Kinder ihrer Zeit

Kinder waren wir alle einmal. Gerade deshalb ist es erstaunlich, wie wenig wir über Kinder und über ihre Bedürfnisse wissen. Vielleicht erinnern Sie sich noch mit etwas Wehmut an Ihre eigene Kindheit.

Haben Sie nicht mit Gleichaltrigen auf dem "Nach-Hause-Weg" von der Schule spontane Verabredungen für den Nachmittag getroffen? Sind Sie nicht auch im Anschluss an die Hausaufgaben sofort nach draußen gestürmt, um dort mit Anderen auf der Straße zu spielen, gegen das Scheunentor des Nachbarn zu "kicken" oder mit Freundinnen "Gummitwist" oder "Hinkekästchen" zu spielen? Haben Sie nicht manchmal bewusst große Umwege in Kauf genommen, um an einem nahegelegenen Weiher vorbeizugehen; dort konnte man flache Steine auf dem Wasser springen lassen? Vielleicht haben Sie aber auch so spannende Dinge getan, wie im nahegelegenen Wald ein "Baumhäuschen" gebaut, "Räuber und Gendarm" gespielt, an Bachläufen Bäche gestaut und mit dem Wasser "gematscht"; sind auf Bäume geklettert und haben "Kirschen geklaut". Sind Sie auch häufiger von Ihren Eltern ermahnt oder sogar bestraft worden, wenn Sie ob des Spiels zu spät oder ganz "verdreckt" nach Hause kamen?

Dieser gedankliche Ausflug in unsere Vergangenheit soll nicht darin münden, dass früher alles schöner und besser war. Diese Aussage kennen Sie wahrscheinlich selbst zur Genüge von Ihren Eltern. Er soll aber verdeutlichen, dass junge Menschen immer in sich ständig veränderten Lebensrahmenbedingungen heranwachsen. Diese haben einen unmittelbaren Einfluss auf Entwicklung, Gesundheit und Wohlbefinden.


Bewegungsmangel - mehr als nur ein Gesundheitsrisiko für das Kind

Sich viel bewegen, draußen herumtollen, die eigenen körperlichen Fähigkeiten austesten - das war noch vor 20 Jahren für Kinder eine Selbstverständlichkeit. In der heutigen Zeit ist die Situation anders. Die Lebenssituation von Heranwachsenden hat sich im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen (Veränderungen des Lebensstils) entscheidend gewandelt.
  • Kinder finden immer weniger Spiel- und Bewegungsräume vor, in denen sie ihre Bewegungsbedürfnisse spontan und gefahrlos ausleben dürfen,
  • Kinder werden im Zuge organisierter "Events" durch angeleitete Aktivitäten Erwachsener zunehmend verplant ("verplante Kindheit"),
  • Kinder beschäftigen sich immer mehr statisch passiv sitzend mit den multimedialen Angeboten einer Spiel- und Informationstechnologie (Erfahrungen aus "zweiter Hand"),
  • Kinder haben immer weniger Spielpartner, sie spielen häufig allein,
  • Kinder werden durch verunsicherte und in ihrem Erziehungsverhalten zur Überbehütung neigende Erwachsene in ihrem spontanen Spiel- und Bewegungstrieb immer mehr eingeschränkt.

Die Rahmenbedingungen kindlichen Daseins dramatisieren sich insbesondere in den städtischen Gebieten. Das Auto und der Verkehr drängen Kinder aus ihren informellen Spielräumen zunehmend heraus. Diese Entwicklung führt wiederum dazu, dass Kinder stärker an die Wohnung als Spielbereich gebunden werden. Computerspiele und ein hoher Video- und Fernsehkonsum sorgen zusätzlich dafür, dass Kinder ihre natürliche Beziehung zu Bewegung, Spiel und Sport sehr beschränkt ausformen. Sie sind kaum noch körperlich aktiv, werden mit optischen und akustischen Reizen einseitig überflutet. Häufig übernimmt das Fernsehen die Rolle der Spielkameraden, ja sogar in Extremfällen die Rolle des Erziehers. Die Kinder werden zu Stubenhockern - und das in einem Alter, in dem entscheidende wachstums- und reifungsbedingte Veränderungen des Muskel-, Skelett- und Nervensystems ihre Entwicklung prägen.

Die Folgen mangelnder Bewegung:

Schon im Kindergarten fallen Kinder auf,
  • die über den Rand ihrer Malhefte malen,
  • keine Linie halten können,
  • zu großen oder zu schwachen Druck auf das Papier ausüben,
  • deren Strichführung zu schwach und zu zittrig ist.
Diese Auffälligkeiten manifestieren sich im weiteren Entwicklungsverlauf sehr schnell in
  • Lernstörungen in der Schule,
  • Haltungsstörungen,
  • Wahrnehmungs- und Koordinationsstörungen,
  • emotional-sozialen Störungen,
  • Verhaltensstörungen.

Neuere Erkenntnisse bestätigen darüber hinaus die Zusammenhänge zwischen ungenügender Bewegungskontrolle und zunehmender Unfallhäufigkeit im Kindergarten- und Grundschulalter. Viele Stürze sind auf ungenügende Körper- und Bewegungserfahrungen, insbesondere mangelndes Gleichgewicht, viele Zusammenstöße auf geringe Reaktionsfähigkeit und die Unfähigkeit zurückzuführen, eigene Bewegungen mit denen anderer zu koordinieren. Selbst bei kleinen Stürzen kommt es dadurch häufig zu schlimmen Verletzungen. Weil sich Kinder bei Stürzen nicht rechtzeitig mit den Armen abfangen können, fallen sie nicht selten hart auf den Kopf und ziehen sich Platzwunden zu.

Ein Kind ist ein sich körperlich, geistig und emotional entwickelnder Heranwachsender. Es gilt als wissenschaftlich anerkannt, dass vielfältige Bewegungsanlässe den Prozess des Heranwachsens positiv beeinflussen. Bewegungsmangel dagegen ist ein entscheidender Ursachenfaktor für vielfältige Entwicklungsstörungen. Das, was viele Erwachsene nicht vermuten, gilt in der Zwischenzeit als wissenschaftlich belegt: der kausale Bezug von Bewegung und geistiger sowie psychisch-emotionaler und sozialer Entwicklung.

Bewegung braucht das Kind, damit es sich gesund entwickeln und wohl fühlen kann

Der Stellenwert von Bewegung und gesunder körperlicher Entwicklung hat sich in den letzten Jahren erheblich verändert. Vor dem Hintergrund zunehmender Rückenerkrankungen, Herz- Kreislauferkrankungen und einer steigenden Anzahl übergewichtiger Mitmenschen setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass gezielte Bewegungsangebote diese Krankheiten verhindern können. Besondere Beachtung findet dabei die sog. "Primär-Prävention", und diese sollte möglichst im Kindesalter ansetzen. Gerade der noch im Wachstum befindliche Organismus benötigt zur Ausbildung funktionstüchtiger und leistungsfähiger Organe ausreichende körperliche Reize.

Die Struktur und die Leistungsfähigkeit eines Organs ist nicht nur abhängig von seinem Erbgut, sondern vor allem auch von der Qualität und Quantität seiner Beanspruchung.

Während für den Erwachsenen zum Erhalt der körperlichen Leistungsfähigkeit eine zwei- bis dreimalige körperliche Belastung von ca. 45-60 Min. in der Woche durchaus als ausreichend angesehen werden kann, benötigen Kinder zum Aufbau ihrer organischen Funktionen eine tägliche Belastungseinheit von mindestens zwei bis drei Stunden. Der Heranwachsende braucht zum Aufbau seiner Gesundheit mehr Bewegung als der Erwachsene zum Erhalt der Gesundheit!

Es bedarf vor allen Dingen auch solcher Belastungsintensitäten, die den Körper anstrengen und ins Schwitzen bringen. Auch hier hat unter normalen Umständen die Natur vorgesorgt: Der bei Kindern vorhandene natürliche Drang nach Toben, Rennen, Klettern, Springen, Balancieren usw. braucht nur genügend Raum und Gelegenheit zum ausleben. Ist dies aufgrund der bekannten Umstände nicht mehr in ausreichendem Maß gegeben, kommt es zu Beeinträchtigungen in der körperlichen sowie geistigen und seelisch-emotionalen Entwicklung.

Das Kind ist eine körperlich-seelische und geistige Einheit.Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Kinder sind "Heran-Wachsende". Sie brauchen spezifische Rahmenbedingungen, damit sie erwachsen werden, ihre Persönlichkeit entwickeln können. Das Kind braucht geeignete Hilfen und Anreize aus seiner sozialen Umgebung, die darauf ausgerichtet sind, seine natürlichen "Grundbedürfnisse" zu befriedigen und auszubauen, damit diese Bedürfnisse langfristig erlebt werden können. Neben Liebe, Zuneigung, Anerkennung, Lob, Wertschätzung und sozialer Bindung stellt das Bedürfnis nach Bewegung und Spiel ein solch grundlegendes Bedürfnis dar.

Kinderwelt ist Bewegungswelt - Was Kinder durch Bewegung lernen

Für die meisten Erwachsenen ist Gesundheit, Fitness sowie einen schönen, trainierten Körper zu besitzen ein wichtiges Motiv sich zu bewegen und Sport zu betreiben. Für Kinder sind diese Attribute keine Triebfeder. Sie bewegen sich aus dem einfachen Grund, weil sie Freude, Spaß und Lust dabei erfahren wollen.

Es liegt grundsätzlich in der Natur des Menschen sich zu bewegen. Der Einfluss der körperlichen Aktivität auf die kindliche Reifung und Entwicklung findet in dem starken Antrieb zur Bewegung (kindliches Bewegungsbedürfnis) seinen Ausdruck. Ohne diese natürliche Anlage wäre eine Entwicklung vom unselbständigen Säugling zu einer selbständigen, selbstbewussten und gesunden erwachsenen Persönlichkeit nicht möglich. Dabei spielen gerade die Bewegungserfahrungen und die Bewegungsmöglichkeiten in den ersten 11 bis 12 Lebensjahren eine besondere Bedeutung. Bewegung kann somit als Grundprinzip eines sich körperlich sowie geistig und seelisch entwickelnden Lebens angesehen werden - ohne Bewegung kein Leben.

  • Ein Säugling strampelt vor Lust; Bewegung ist zunächst die einzige Möglichkeit der non-verbalen Kommunikation, des Ausdrucks von psycho-emotionaler Befindlichkeit.
  • Ein Kind hüpft spontan vor Freude, rennt, klettert, schaukelt, springt und tobt; damit gelangt es zu immer mehr (Bewegungs-) Sicherheit, Selbständigkeit und räumlicher Erkundung und somit Umwelterfahrung.
  • Ein Kind sowie ein Jugendlicher drängen nach Spiel mit anderen, nach Leistung und Wettbewerb; Heranwachsende lernen unterschiedliche Rollen einzunehmen, Regeln zu akzeptieren, Konflikte auszutragen, Toleranz- und Rücksichtnahme, Absprachen zu treffen und sammeln somit grundlegende Erfahrungen mit Gleichaltrigen.

Uns Erwachsenen ist es als Kinder von damals nur nicht bewusst geworden. Grundlegende (Lern-) Erfahrungen, die für das Leben in der Gesellschaft, für die Entwicklung von Körper, Geist und Seele von entscheidender Bedeutung sind, haben wir vor allem durch die aktive, bewegte Auseinandersetzung mit der Umwelt erworben. Wissenschaftler sprechen hier von "kindlicher Sozialisation" oder von den "Erfahrungen aus erster Hand". Ähnlich wie es heute noch in der Tierwelt zu beobachten ist, "lernt" der Mensch und "erfährt" sich der Mensch durch die Bewegung. Kinder sind "Dirigenten" ihrer Entwicklung.

Was Kinder für die Zukunft "begreifen" sollen, müssen sie erst einmal "greifen" können.

Die Neugier des Kindes ist groß. Dies ist etwas ganz natürliches und ein wichtiger Teil einer gesunden Entwicklung. Das Gehirn ist noch plastisch und erfahrungshungrig; es nimmt Eindrücke leicht auf und lernt schnell, sie als komplexe Muster im Gedächtnis zu speichern. Und wie können Kinder mehr Angebote erfahren, als in der sinnlich aktiven Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Denn beim Anfassen, Fühlen, Riechen, Hören und Sehen, beim Rangeln, Balancieren, Klettern und Schubsen erfahren Kinder aktiv ihre Umwelt und ihren Körper. Sie trainieren damit ganz unbewusst, was sie ein Leben lang können müssen.

Den Sinn einer Sache erfahren wir vorwiegend über die SinneDas "Be-Greifen" von Gegenständen hatte einen tiefen und weitreichenden Sinn. Damit wird der Tastsinn aktiviert und u. a. das Verständnis für Formen geweckt. Nur in der "greifbaren" und handelnden Auseinandersetzung mit der zu entdeckenden Umwelt können Kinder über die Wahrnehmung ihrer Sinnesorgane wichtige und vor allem wirklichkeitsnahe Lebenszusammenhänge selbst erfahren ("Erfahrungen aus erster Hand").

In einer Zeit des "Fern-sehens" und des "Fern-hörens" brauchen Kinder das "Greifbare"

Kinder brauchen eine Umwelt, die man anfassen, fühlen, hören, riechen, in der man sich bewegen und Erfahrungen sammeln kann. Ein runder Gegenstand - z. B. ein Ball - rollt ständig weg. Er ist nur ganz schwer unter Kontrolle zu halten, ein Gegenstand mit Ecken dagegen, bleibt liegen. Das von Kindern so häufig praktizierte Greifen nach Gegenständen aller Art, wird zu einem "Be-Greifen", das Fassen zu einem "Er-Fassen". Das Konkrete ist die Grundlage für das Abstrakte. Dieses Handeln ist als ein wichtiger Teil der Entwicklung von Wissen, Urteil und Einsicht, also von geistiger Entwicklung zu betrachten. Denken vollzieht sich zunächst in der Form des aktiven Handelns; durch die handelnde Auseinandersetzung mit den für das Kind noch vielen unbekannten Dingen der Umwelt gelangt es spielerisch zu deren gedanklicher Beherrschung.

Mit Sicherheit haben wir es irgendwann auch schon einmal selbst erfahren: Um eine für uns neue Sache zu verstehen, z. B. die Gebrauchsanleitung des neuen Fernsehers, reicht es nicht aus, wenn wir uns diese nur durchlesen - visuelle Vorstellung -, wir sind erfolgreicher, wenn wir handelnd - mit allen Sinnen - beteiligt sind. Der Sinn einer Sache kommt durch die Sinne.

Kinder lieben sensorische Sensationen

Der Motor der Entwicklung ist die kindliche Neugier und ihr unsagbarer Hunger nach vielfältigen Bewegungsanlässen. Der ständige Drang zum Steigen, Klettern, Rutschen, Drehen, Schleudern, Schwingen, Herunterspringen, mit dem Ball spielen, in die Pfütze springen, wer kann sich nicht selbst daran erinnern. Haben wir nicht auch ständig unsere Eltern damit genervt, mit uns "Engelchen flieg" zu spielen, haben wir es nicht genossen, wenn uns der Vater hoch in die Luft "geworfen" und uns sicher wieder aufgefangen hat. Unsere als Kinder nach vielfältigen Bewegungsanlässen gelüsteten Bedürfnisse hatten eine weitaus größere Vielfalt als dies heute im Erwachsenenalter der Fall ist. Heute sind sie uns zum Teil eher unangenehm, wie z. B. das Drehen oder Schleudern. Damals war aber die Sucht nach "sensorischen Sensationen" eine ganz entscheidende Triebfeder, die wir benötigten, damit unsere Körpernahsinne wie Gleichgewichtssinn und Muskel- und Bewegungssinn sich entwickeln konnten.

Was z. B. "sich im Gleichgewicht befinden" bedeutet, kann nur erfahren, wer es auch bis zum Extrem erprobt hat. Kinder "begreifen" über Bewegung ihre räumlich-dingliche Umwelt. Begriffe wie Schwung, Gleichgewicht, Schwerkraft und Reibung können nur über grundlegende Bewegungstätigkeiten wie Schaukeln, Rutschen, Balancieren, Klettern etc. erworben werden. Auf einem ganz schmalen Baumstamm "zu balancieren" bedarf einer ganz anderen Konzentration als auf einem breiten Baumstamm "zu gehen". Auf einer hohen Mauer "zu balancieren" bedarf mehr Mut und Angstbewältigung, als auf einem Rinnstein.

Diese Sinneserfahrungen und Körpererlebnisse sind z. B. unerlässlich, damit wir unseren Körper bewusst erfahren und mit ihm umgehen können. Körpererfahrungen sammeln beinhaltet:

  • verschiedene Positionen des Körpers und vielfältige Fortbewegungsarten (z. B. Laufen, Klettern, Springen, Kriechen, Hüpfen, Rutschen) auszuprobieren,
  • das Körpergleichgewicht in verschiedenen Lagen und auf verschiedenen Untergründen zu erproben (z. B. Schaukeln, Schwingen, Rollen, Drehen, Hüpfen, Balancieren auf schmalen und labilen Untergründen),
  • Spannung und Entspannung zu erfahren, körperliche Belastung mit ihren Wirkungen auf Herz, Atmung und Muskulatur zu spüren,
  • die Körpergrenzen durch Berührungsreize (z. B. Tastspiele) und Bewegung in begrenzten Räumen (Hindernisse durch- und überwinden) zu erfahren.

Die Erfahrungen des "selbst Machens", die Dinge im Spiel "selbst zu verändern", "selbst zu entscheiden", auch wenn es mehrerer Anläufe bedarf erfolgreich zu sein, sind unerlässlich, um uns selbständig und selbstbewusst zu entwickeln. Es ist anzunehmen, dass Erfolgserlebnisse im Bewegungsbereich zu einem größeren Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten beitragen.

Mehr Respekt für die "Kleinen"! - Selbstbewusstsein und Selbständigkeit führt über Bewegung.

So aktiv, wie Kinder mit ihrer Trotzreaktion "Kann ich doch alleine!" den Wunsch nach Selbständigkeit äußern und sich gegen das unerwünschte Hilfsangebot verteidigen, so aktiv treiben sie ihre eigene Entwicklung von der Geburt bis zur Pubertät voran. Kinder brauchen das riskante Klettern und Toben, um sich selbst und ihre Umwelt wahrzunehmen. Denn die Aufnahmefähigkeit ihrer Sinnesorgane und die damit in Verbindung stehende Bewegungssicherheit wächst in dem Maße, in dem sie diese fordern. Und nie wieder sind diese Aktivitäten so wichtig wie in den ersten elf Lebensjahren. Deswegen ist die "helfende Hand" des Erwachsenen auch nicht immer eine wirkliche Hilfe. Im Gegenteil - sie kann manchmal sogar sehr stark entwicklungshemmend sein. Kinder haben ein sehr gutes Gefühl dafür, was sie sich zutrauen können oder nicht. Sie schätzen ihre Leistungsfähigkeit sehr gut ein und trauen sich in der Regel auch in Gefahrensituationen nur das zu, wo sie sicher sind, dass sie es auch können. Wir können das sehr gut beobachten, wenn wir Kinder beim Klettern beobachten. Bedacht und konzentriert tätigen sie jeden Tritt und jeden Handgriff, halten inne um sich neu zu orientieren, gehen zurück, um einen anderen, vielleicht sichereren und erfolgreicheren Weg zu suchen. Werden sie unsicher, kehren sie wieder um. Mit der gewonnen Erkenntnis es zunächst geschafft zu haben, schöpfen sie Mut für das nächste Mal.

Sich trauen macht selbstbewusst! Der Reiz so manchen Tuns liegt häufig in der Ungewissheit begründet, inwieweit die selbst gesteckten Anforderungen bewältigt werden können oder auch nicht. Darüber hinaus lernen Kinder frühzeitig unbekannte und manchmal auch gefährliche Situationen einzuschätzen und sich in ihrem Verhalten darauf einzustellen. Gerade Gefahrensituationen oder der Umgang mit gefährlichen Gegenständen vermitteln den Kindern nachhaltigere Erfahrungen und Kompetenzen, als wenn sie durch Verbote vom Tun abgehalten und jahrelang nur durch Belehrungen theoretisch auf Gefahren vorbereitet würden.

Kinder brauchen Freiräume, da sie sich aktiv an der Gestaltung ihres Lebens beteiligen wollen. Die kindliche Autonomie darf dabei nicht beschränkt werden. Erwachsene sollten auf dem Weg der Erziehung zur Selbständigkeit und zur Eigenverantwortung zwar ein "Sicherheitsnetz" spannen - dann aber müssen sie ihre Kinder auch alleine balancieren lassen. Pädagogen sehen hierin einen wesentlichen erzieherischen Ansatz, Kinder frühzeitig zu befähigen, ihre eigenen Fähigkeiten einzuschätzen, sich auf Gefahren einzustellen und ihr Handeln auf spezifische Situationen flexibel auszurichten. Über Bewegungskönnen gesteigertes Selbstvertrauen zeigt auch positive Wirkungen in anderen Verhaltensbereichen.

Brauchen Kinder Bewegung oder brauchen Kinder Sport ?

Zwar werden die Begriffe "Sport" und "Bewegung" häufig synonym verwendet, jedoch haben sie eine unterschiedliche Bedeutung. Während charakteristisch für den "Sport" das Streben nach technischem Können, nach Leistung und Leistungsvergleich ist, so ist "Bewegung" das sichtbare Ergebnis einer Ortsveränderung im Raum.

Bewegung ist der "artgerechte Umgang" mit dem Körper, so wie unsere Urahnen vor tausenden von Jahren ihren Körper einsetzen mussten, um zu überleben. Diese für eine gesunde Entwicklung so wichtige Anlage wird den Kindern heute noch als evolutives Erbe in die Wiege gelegt. Ohne Bewegung kein Leben!

Bewegung beinhaltet so grundlegende und vom Kind mit viel Freude und Begeisterung angewendete Tätigkeiten wie Klettern, Laufen, Springen, Hüpfen, Drehen, Schleudern, Balancieren, Schaukeln und Schwingen. Auch können die im Trend stehenden Spiel- und Freizeitgeräte wie u. a. "Inline-Skates", "Kickboards", "Skateboards" sinnvoll die Bewegungsvielfalt bereichern. Wichtig ist, dass Kinder erst einmal vielfältige Erfahrungen mit ihrem Körper machen können, bevor sie sich einer bestimmten Sportart zuwenden.

Bis zum achten Lebensjahr steht die Vielseitigkeit vor der Spezialisierung. Erst wenn die elementaren Bewegungen in vielfältiger Weise angewendet und in variablen Anforderungen gefestigt worden sind - dies sollte womöglich bis zum achten/neunten Lebensjahr der Fall sein - , sollte man sich mit den sportlichen Neigungen und Interessen des Kindes auseinandersetzen. Es macht z. B. wenig Sinn, ein Kind zum Tennistraining anzumelden, wenn es im Vorfeld nicht genügend mit Bällen gespielt hat. Auch wird ein Kind wenig erfolgreich im Winter auf den Skiern oder dem Snowboard stehen, wenn es nicht vorher vielfältige Balanceaufgaben bewältigen konnte. Kinder brauchen deshalb zuerst einmal reichhaltige Bewegungserfahrungen wie sie u. a. in den Anregungen dieses Handbuchs gegeben oder aber auch durch organisierte Bewegungsangebote in den Turn- und Sportvereinen, im allgemeinen Kinderturnen oder in den psychomotorischen Fördereinrichtungen in spielerischer Form Berücksichtigung finden. In "Eltern-Kind-Gruppen" turnen schon die Kleinsten mit ihren Eltern.

Autor

Dr. Dieter Breithecker
Sport- und Bewegungswissenschaftler,
Leiter der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V.
Autor und Mitautor zahlreicher Veröffentlichungen und Videoproduktionen.
Referententätigkeit bei Kongressen und Lehrveranstaltungen zu diesen Arbeitsschwerpunkten:

  • Kinder mit mangelnden Bewegungserfahrungen
  • Rückenschule/Haltungsförderung bei Kindern und Jugendlichen
  • Bewegter Kindergarten - Bewegte Schule
  • präventive Maßnahmen an den Arbeitsplätzen in Schule und Büro